Meinung

Erdoğans Prüfungen 2023 – Teil 2: Erfolg oder Scheitern inmitten von Tragödie und Korruption

Darauf schauend, wie unterschiedlich der Westen auf verschiedenen Krisenherde mit kostbaren Hilfsgeldern reagiert: Kann man Muster politischen Willens erkennen? Versucht der NATO-Westen, sich Erdoğans in aller Öffentlichkeit zu entledigen? Allem Anschein nach ja.
Erdoğans Prüfungen 2023 – Teil 2: Erfolg oder Scheitern inmitten von Tragödie und KorruptionQuelle: www.globallookpress.com © Shadati/XinHua

Von Elem Chintsky

Teil 1 finden Sie hier.

In der vorigen Publikation erläuterten wir die pure Kluft an Prioritäten, wenn es um die geleistete Materialhilfe der eigenen NATO-Partnern und vermeintlich enger EU-Verbündeter an die Türkei ging. Diese Kluft wurde sichtbar im Vergleich zu den im Vergleich exorbitanten Summen, die der kollektive Westen bereit war und ist, für die Ukraine zu mobilisieren und in diese "zu investieren".

Anhand der bisherigen Zahlen und Taten kristallisiert sich eine politische Ratio, die mittelfristig womöglich Ergebnisse erzielt, die Brüssel und Washington genehm sind – langfristig jedoch noch ganz andere Folgen mit sich bringen könnten.

Aber wie man es auch dreht und wie man zu der Persönlichkeit selbst steht: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht tatsächlich vor ernsthaften Problemen.

Selbstverständlich hat das Erdbeben in der Türkei neben der humanitären Katastrophe auch eine enorme politische Dimension, die der liberaldemokratische Westen auszuschlachten versucht. Dort gleichzeitig nicht allzu viele Hilfsgelder hineinfließen zu lassen, kann den "demokratisierenden" Effekt, den sich die EU und die USA dort erhoffen, nur verstärken.

Es kann nämlich den Schock und die Verzweiflung der türkischen Bevölkerung in Unmut und Empörung umwandeln und auf Erdoğan richten, der laut ihnen viel zu wenig oder das Falsche tut, um das Leid der Geschädigten zu lindern. Denn für die Türkei ist dieses Jahr Wahljahr, und bisher sind die Präsidentschaftswahlen auf Mai beziehungsweise Juni angesetzt.

Lange genug hatte man in Berlin und anderen westlichen Hauptstädten auf den richtigen Katalysator für den Regimewechsel in Ankara hingearbeitet und in den letzten zehn Jahren verschiedene Ansätze vergebens probiert. Lediglich das Jahr 2016 zeugt von einem sehr knappen Misserfolg, als Erdoğan um Haaresbreite seinem Sturz hatte entkommen können. Am Ende war es allem Anschein nach die Natur selbst, die dem Westen einen geeigneten Katalysator zugespielt haben könnte. 

Viele der Anklagepunkte der türkischen Zivilgesellschaft nämlich – zum Beispiel Korruption –, die indessen energisch an Erdoğan herangetragen werden, sind nicht ganz ohne Grundlage: Tatsache ist, dass unter seiner Aufsicht Baurichtlinien über Jahre vorsätzlich vernachlässigt oder missachtet worden waren, die zu viel schwächerem Fundament in den Gebäuden geführt hatten. Denselben Gebäuden, die letztendlich von dem Erdbeben zu Schutt und Asche zerrieben wurden.

Veranschaulicht wird das noch mal durch das Schicksal der südtürkischen Kleinstadt Erzin mit 42.000 Einwohnern, deren Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu ist – Mitglied der Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), zu Deutsch: Republikanische Volkspartei. Elmasoğlus Stadt liegt zwischen İskenderun und Osmaniye, mitten im Erdbebengebiet, blieb aber von der Naturkatastrophe verschont.

Laut Medienberichten erlaubte der Bürgermeister keinerlei illegale Baumaßnahmen und Infrastrukturprojekte. Wenn sich diese Anklagepunkte gegen die türkische Regierung weiter mehren, stapeln und bestätigen, wird die Wahlkampagne Erdoğans zum Frühsommer hin zu einer präzedenzlosen Herausforderung in der politischen Karriere des erfahrenen Staatsoberhaupts.

Erdoğan irritierte Brüssel und Washington mit seinem realpolitischen Ansatz, die eigenen Staatsinteressen, ähnlich wie Indien oder Ungarn, stets und stur an die erste Stelle zu setzen – besonders nach dem 24. Februar 2022, als die militärische Spezialoperation Russlands in der Ukraine begann. Statt dem Beispiel Deutschlands oder Frankreichs zu folgen und sich allen Sanktionspaketen anzuschließen, die die USA angefordert haben, half Erdoğan Russland im letzten Jahr de facto, geschlossene Handelswege zu umgehen.

Auch das enorme russisch-türkische Erdgas-Energieprojekt TurkStream ist ein Dorn im Auge der NATO – insbesondere der USA selbst als überteuertem, aber "demokratischem" LNG-Exporteur nach Europa. Zu anderen Episoden der nicht allzu weit entfernten Vergangenheit gehört auch die Beschaffung eines russischen S-400-Boden-Luft-Abwehrsystems im Jahr 2019, was auch zu Perplexität innerhalb der NATO-Gemeinde geführt hatte. Der NATO-Beitrittsprozess von Schweden und Finnland – das glorreiche, neueste Triumph-Kapitel der USA in der NATO-Nordosterweiterung hin an die begehrte russische Grenze –, wurde auch bisher konkret durch Erdoğan erschwert.

Dieser diplomatische "Ansatz der multiplen Vektoren" ist für Erdoğan nun aufgebraucht. Beide, Naturgewalt und Geopolitik, haben Erdoğan an einen Punkt getrieben, an dem er zu kategorischen Entscheidungen gezwungen sein wird. Darunter könnten auch bald Themengebiete sein, auf deren "richtige" türkische Handhabe sich das US-Establishment bisher immer hatte verlassen können: nämlich klassische russisch-türkische Differenzen in dem Armenien-Aserbaidschan-Konflikt, der Syrien-Frage, der Position Libyens oder dem Ukrainekrieg – allesamt potenziell einer Reform obliegend, die auf einer Annäherung an Russland basieren würde.

Mögliche Optionen für Erdoğan

Die Ausrufung eines Ausnahmezustands im Land könnte den Wahltermin formell auf unbestimmte Zeit hinauszögern. Damit wäre es jedoch bei Weitem noch nicht getan. Denn dass Erdoğan allein damit schon die Gunst des Volkes wiedergewinnen würde, ist mehr als zu bezweifeln. Die Frage wäre eher, aus welchen Gründen ein solcher Ausnahmezustand erlassen werden könnte.

Wenn dies aufgrund einer sich verschlimmernden wirtschaftlichen Krise, die aus einer Kombination der ohnehin gewaltigen Inflationsrate von 80 Prozent (Stand: 2022) und den zivilgesellschaftlichen und infrastrukturellen Folgen des Erdbebens geschehen würde, wäre das lediglich eine Hinauszögerung des unvermeidlichen Endes der Ära Erdoğan.

Denn die Probleme des Präsidenten würden sich nur multiplizieren und bei einer verschobenen Wahl noch stärker negativ entladen, als sie es ohnehin schon früher getan hätten. Das erweiterte Zeitfenster für einen Narrativ-Wechsel müsste sehr gezielt genutzt werden. Mit einer aufmerksamen und unnachgiebigen Opposition jedoch, die fast reibungsfrei und mit westlicher Soft-Power-Unterstützung den Druck immer weiter erhöht, wäre selbiger bitter nötige Narrativ-Wechsel ein Herkulesakt.

Einschränkungen des Mediendiskurses durch Ankara, wie jüngst am Beispiel von Twitter geschehen, würden dann vom Westen und der türkischen Opposition hysterisch als "autoritäre Meinungsfreiheitsberaubung" Erdoğans ausgelegt werden. Anschuldigungen, für die der Wertewesten in heutiger Zeit das moralische Mandat längst verwirkt hat – aufgrund eigener grober Übertretungen derselben Art.

Man nehme nun an, um etwas ketzerisch zu sein, was jemand an Erdoğans Stelle zu tun geneigt sein müsste. Wenn man dies klargestellt hat: Mit einem trockenen, strategischen Blick auf die Optionen des türkischen Staatsoberhaupts blickend, schwindet der Handlungsspielraum rasant. Ein Krieg – von denen es zugegebenermaßen derzeit schon mehr als genug gibt – wäre das Einzige, was dem jetzigen Präsidenten dazu verhelfen würde, das türkische Volk erneut hinter sich zu bringen. Eine andere Vorgehensweise, durch die die eigenen Unzulänglichkeiten und Versäumnisse der Vergangenheit im Volksbewusstsein ins mediendiskursive Abseits gedrängt werden, ist schwer vorstellbar. Wie noch vor zwei Jahren auch ein Krieg mit dem NATO-Partner Griechenland viel unwahrscheinlicher geklungen hätte und plötzlich als reale Möglichkeit doch ernst genommen werden muss.

Aber aus Sicht der diplomatischen Rhetorik hat der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis kürzlich alles richtig gemacht und in allgemeinen Tönen davon gesprochen, dass eine sich schnell erholende Türkei für die nationalen Interessen beider Länder von Vorteil wäre. Mitsotakis erläuterte auch, dass das herrschende Klima nach der Erdbebenkatastrophe eine Chance darstelle, die griechischen Beziehungen zur Türkei neu zu definieren. Die sehr bald anstehenden Wahlen in der Türkei und deren möglichen Ausgang hat der griechische Regierungschef zwar nicht explizit erwähnt, sie könnten aber zu diesem vage erwähnten "Klima" durchaus dazugezählt werden.

Die seit Langem bestehenden Streitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei über territoriale Rechte in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer haben sich nicht gerade beruhigt: Ganz im Gegenteil, im letzten Jahr, im Zuge der verstärkten strategischen Zusammenarbeit der USA mit Griechenland, verschärften sich die Spannungen zwischen Ankara und Athen sichtlich. Und es geht nicht nur um einen möglichen Krieg als politische Plattform an sich. Es müsste auch ein Krieg sein, den Erdoğan in den Augen seines Volkes gewinnt, sonst säßen ihm die schleichenden Gespenster des liberaldemokratischen Putsches, die weiter oben beschrieben wurden, umgehend wieder im Nacken.

Ein Krieg zwischen den beiden NATO-Staaten wäre ein kurioser Präzedenzfall und würde die juristische Festigkeit des Nordatlantikvertrags sprengen. Ein NATO-Austritt der Türkei wäre eine wahrscheinliche Konsequenz, die eine noch tiefere Integration mit den eurasischen Wirtschafts-, Militär- und Machtsalons – also BRICS, OVKS und SOZ, zum Beispiel – zur Folge hätte. Dieses erste Absplittern eines historischen NATO-Mitglieds trüge auch zu einem zermürbenden Dominoeffekt bei.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.

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