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Rote Linie für Ägypten: Israel plant, die Kontrolle über die Grenze zu Gaza zu übernehmen

Israel plant, die Philadelphi-Passage zurückzuerobern, aber Experten warnen, dass dies eine schlechte Idee sein könnte: Eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Israel und Ägypten auf der Philadelphi-Route wäre eine zu schwierige Aufgabe.
Rote Linie für Ägypten: Israel plant, die Kontrolle über die Grenze zu Gaza zu übernehmenQuelle: Gettyimages.ru © Mahmoud Hjaj / Anadolu Agency @ Getty Images

Von Elizabeth Blade

Die 14 Kilometer lange Grenze, die den Gazastreifen von Ägypten trennt, wird seit Jahren von Militanten in der Enklave zum Schmuggel von Waffen, Technologie, Geld und Personal genutzt. Um dies zu verhindern, erwägt Israel nun, die Grenze wieder zu besetzen.

Mehr als hundert Tage ist es her, dass Israel nach dem blutigen Angriff vom 7. Oktober, bei dem mehr als 1.200 Israelis von militanten Hamas-Kämpfern getötet wurden, die Operation "Eisernes Schwert" in Gaza startete.

Premierminister Benjamin Netanjahu schwor, die Verantwortlichen für das Massaker, bei dem auch mehr als 5.000 Menschen verletzt wurden, zu bestrafen. Außerdem versprach er, die Hamas, welche den Gazastreifen kontrolliert, zu zerschlagen und die Enklave, die eine Bedrohung für Israels Sicherheit darstellt, zu entmilitarisieren. Doch nach mehr als drei Monaten scheinen sich die Verantwortlichen in Westjerusalem immer noch den Kopf darüber zu zerbrechen, wie diese Ziele erreicht werden können.

Die größte Herausforderung ist der anhaltende Strom von Waffen, Technologie und Geld in den Gazastreifen, von wo aus die militante Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad weiterhin Raketen abfeuern. Israel glaubt, dass diese Waffen von der Sinai-Halbinsel kommen und über die sogenannte Philadelphi-Route über die Grenze geschmuggelt werden.

Dieser Begriff entstand 1982 nach dem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und der anschließenden Grenzziehung. Das Abkommen sah vor, dass beide Seiten entlang der 14 Kilometer langen Linie Truppen stationierten, was Stabilität und Sicherheit versprach. Doch einige Jahre später, 1987, während der ersten Intifada, begannen die Palästinenser, Tunnel unter der Passage zu graben, durch die sie Waren und Waffen, aber auch Kämpfer und Geld schmuggelten.

Als Israel 2005 seine 17 Siedlungen im Gazastreifen räumte und die Kontrolle über die Philadelphi-Route an die Palästinensische Autonomiebehörde übergab, verfügte die Hamas bereits über Hunderte solcher Tunnel.

Dr. Ely Karmon, leitender Wissenschaftler am Internationalen Institut zur Bekämpfung des Terrorismus, äußerte sich diesbezüglich:

"Anfangs unternahm Ägypten keine nennenswerten Anstrengungen, den Schmuggel zu unterbinden, einfach weil er beiden Seiten große wirtschaftliche Vorteile brachte.

In dieser Zeit baute die Hamas ihr Arsenal aus und schmuggelte Waffen, Geld und Technologie. Es war auch die Zeit, als iranische und Hisbollah-Experten und Techniker in den Gazastreifen kamen und den Hamas-Ingenieuren beibrachten, wie man eine eigene Industrie aufbaut."

Dann kam 2011 der Arabische Frühling. Der langjährige ägyptische Herrscher Husni Mubarak wurde abgesetzt und radikale Elemente auf dem Sinai begannen, ihre Häupter zu erheben. Terroranschläge wurden zu einem regelmäßigen Phänomen, insbesondere nach 2014, als Daesch (Islamischer Staat/IS) die Kontrolle über die meisten dschihadistischen Gruppen auf der Halbinsel übernahm und das sogenannte Wilayat Sinai gründete.

Karmon sagte:

"Diese Gruppen waren gegen die neue Regierung von Präsident Abdel Fattah As-Sisi. Sie griffen die Armee an und töteten Zivilisten im ganzen Land. Kairo erkannte, dass es eine Zusammenarbeit zwischen der Hamas und diesen Terroristen gab und beschloss, diese Verbindung zu kappen."

Im Laufe der Jahre hat Kairo zahlreiche Anstrengungen unternommen, um die Bedrohung, die vom Sinai ausgeht, zu bekämpfen. Es hat seine militärische Präsenz auf der Halbinsel verstärkt, Anti-Terror-Operationen gestartet und Hunderte von Tunneln geflutet, die den Gazastreifen mit Ägypten verbinden. Doch Experten in Israel glauben, dass nicht alle Schlupflöcher geschlossen wurden. Vielmehr werden sie noch immer für den Schmuggel von Kämpfern, Waffen und möglicherweise israelischen Geiseln genutzt.

Deshalb haben in den letzten Wochen einige israelische Politiker, darunter Netanjahu, erklärt, dass die Philadelphi-Route zurückerobert werden und Israel die volle Kontrolle über das Gebiet erringen sollte.

Karmon sagt, Israel habe nicht die Absicht, das Gebiet zu besetzen. Stattdessen wolle sein Land lediglich seine militärische Präsenz in der Region verstärken, um die Sicherheit zu gewährleisten. Der Experte führt aus:

"Eine Rückeroberung des Gebiets wäre sehr schwierig, einfach weil wir ein Friedensabkommen mit Ägypten haben. Natürlich gibt es Stimmen aus dem rechten Lager, die eine Besetzung des Gazastreifens oder den Bau von Siedlungen fordern, aber Netanjahu weiß um die Bedeutung dieser strategischen Beziehungen zu Kairo und wird sie nicht gefährden."

Doch in Ägypten sind einige noch besorgt. Hany Soliman, geschäftsführender Direktor des Arabischen Zentrums für Forschung und Studien in Kairo, sagt, Netanjahus Worte würden durch Taten untermauert.

Dazu gehören Verhandlungen mit den Amerikanern über den Bau einer unterirdischen Mauer auf ägyptischer Seite. Das Projekt, das einen Kilometer tief und 13 Kilometer lang sein soll, wird mit Sensoren und anderen Technologien ausgestattet sein, die es ermöglichen, Ausgrabungen zu entdecken und Radikale davon abzuhalten, ihr Glück zu versuchen.

Das Vorhaben soll von den USA finanziert werden. Ob ein solches Projekt zustande komme, hänge aber sehr vom Willen der Ägypter ab, sagt Soliman, und die wollen vielleicht nichts überstürzen. Er erklärt:

"Erstens wird Ägypten aus politischen und sicherheitspolitischen Gründen ein solches Protokoll nicht unterzeichnen, vor allem nicht zu einer Zeit, in der die israelischen Absichten unklar sind und in der es Besorgnis über die israelischen Versuche gibt, ihren Vertreibungsplan durchzusetzen.

Und zweitens sollten wir die Palästinensische Autonomiebehörde nicht vergessen. Sie hat jedes Recht, sich diesem Projekt zu widersetzen. Sie kann argumentieren, dass die Besetzung der Philadelphi-Passage nicht mit den Osloer Verträgen vereinbar ist und ihre Souveränität verletzt."

Und dann ist da noch die öffentliche Meinung. Eine kürzlich vom Arabischen Zentrum für Forschung und politische Studien in 16 arabischen Ländern durchgeführte Umfrage ergab, dass sich 92 Prozent der Befragten mit den Palästinensern solidarisch fühlen. 89 Prozent der Befragten lehnten eine Normalisierung der Beziehungen ihres Landes zu Israel ab, während 36 Prozent der Meinung waren, ihre Regierungen sollten die Beziehungen zu den Verantwortlichen in Jerusalem intensivieren. Dies könnte bedeuten, dass eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Israel und Ägypten auf der Philadelphi-Achse eine allzu schwierige Aufgabe wäre.

Das heißt jedoch nicht, dass Israel es nicht versuchen wird. Ende Oktober beschlagnahmten die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) große Mengen an Munition, die angeblich von Syrien in den Sinai und von dort über die Philadelphi-Achse zur Hamas geschmuggelt wurden. Viele dieser Waffen wurden von Hamas-Kämpfern bei ihrem tödlichen Angriff am 7. Oktober eingesetzt. In Westjerusalem befürchtet man, dass die militante Gruppe erst dann zerschlagen werden kann, wenn die berüchtigte Grenzfrage geklärt ist.

Soliman warnt jedoch vor den Folgen einer israelischen Präsenz an der Grenze.

"Sie wird als eklatanter Angriff auf das Friedensabkommen zwischen den beiden Staaten interpretiert werden. Es besteht die Gefahr, dass Ägypten in einen Grenzstreit hineingezogen wird, und es wird die Vereinbarungen zwischen Kairo und der Palästinensischen Befreiungsorganisation zerstören – etwas, das letztendlich den Frieden [in der Region – Anm. d. Red.] untergraben wird."

Das Problem sei, dass der Schaden nicht auf die Diplomatie beschränkt bleiben würde, argumentiert Soliman. Der Krieg in Gaza hat mehr als eine Million Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, die im Süden der Enklave in Rafah an der Grenze zu Ägypten Zuflucht gefunden haben. Eine verstärkte israelische Präsenz in Rafah könnte diese Menschen in Angst und Panik versetzen und sie dazu bringen, die Grenze gewaltsam zu überqueren und nach Ägypten zu strömen.

Präsident Sisi hat ein solches Szenario bereits als "rote Linie" für Ägypten bezeichnet. Er deutete auch an, dass sein Land nicht zögern würde, Gewalt anzuwenden, um dies zu verhindern. Soliman warnte:

"In einem solchen Fall könnte Ägypten gezwungen sein, militärisch einzugreifen und seine Truppen zu verstärken, um die Grenze zu sichern. Das würde den Konflikt in eine sehr gefährliche und heikle Phase überführen und die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen und Konfrontationen erhöhen."

In Israel neigt Karmon dazu, dieser Einschätzung zuzustimmen. Er ist sich der Komplexität des Themas bewusst, bleibt aber optimistisch:

"Im Moment laufen Verhandlungen [zwischen Israel, Ägypten und den USA], um die richtige Formel zu finden und sicherzustellen, dass die Stabilität wiederhergestellt wird."

Aus dem Englischen

Elizabeth Blade ist RT-Korrespondentin für den Nahen Osten.

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