Meinung

Wie der Ukraine-Konflikt in Russland eine Welle patriotischer Poesie inspiriert hat

Reimen für die Front: Während sich die internationalen Medien auf das Schlachtfeld konzentrieren, entfaltet Russlands Militäroperation in der Ukraine im Inland eine breitere Wirkung. Im kulturellen Bereich hat sich eine weitere "Front" geöffnet, die langfristige Folgen haben wird.
Wie der Ukraine-Konflikt in Russland eine Welle patriotischer Poesie inspiriert hatQuelle: Sputnik © Wiktor Antonjuk

Von Sergey Isotow

Dichter, Künstler und Sänger aus allen Gesellschaftsschichten haben die Realitäten des Konflikts angenommen. Ein interessanter Faktor ist, dass künstlerische Techniken, die von den "liberalen Intellektuellen" einst als ihre Domäne betrachtet wurden, nun von patriotischen Stimmen übernommen worden sind: von hohen literarischen Genres bis hin zu Satire und kurzen ergreifenden Gedichten. Wir erleben eine Rückkehr von Versen im Agitprop-Stil des Zweiten Weltkriegs und ein Wiederaufleben langer erzählender Gedichte und Epen in der Tradition der russischen Poesie.

Und nicht nur Russen stürmen an die kulturelle Front, sondern auch Ukrainer – sowohl diejenigen, die Moskau gegenüber feindlich eingestellt sind, als auch jene, die Russland unterstützen und bereit sind, ihre Überzeugungen zu verteidigen.

Worte und Bajonette

Historisch gesehen lieferte die traditionelle russische Poesie immer schon reichhaltige Kommentare zum Krieg. Alexander Puschkin, ein Zeitgenosse Napoleons und Zeuge seiner Aggression gegen Russland, lobte Gewehre und Bajonette und feierte das militärische Genie des russischen Generalstabs.

Der Schriftsteller und Dichter Michail Lermontow, der als Leutnant in den kaiserlichen russischen Streitkräften diente, schrieb über die glorreichen Schlachten der Vergangenheit und seine eigenen Erfahrungen im Kampf.

Sergei Yesenin, Nikolai Gumiljow und der Futurist Welimir Chlebnikow kämpften alle im Ersten Weltkrieg und verwandelten später den Schmutz und Staub der Grabenkämpfe in brillante Verse und Gedichte.

Während des Zweiten Weltkriegs diente die Poesie als Mittel zur Aufrechterhaltung der Moral. Ein einziges Gedicht konnte die Stimmung mehr heben als alle Propagandaplakate und Flugblätter zusammen. Tatsächlich sagte ein Frontsoldat, er glaube, dass das Gedicht des Schriftstellers Konstantin Simonow "Töte ihn!" die Medaille "Held der Sowjetunion" verdient hätte, denn er allein hatte damit mehr Nazis ausgeschaltet als der tödlichste Scharfschütze der Welt.

Allmählich begann die elektrisierende Kraft der frühen sowjetischen Poesie zu schwinden, bis kreatives Schreiben eines Tages zu einem der wichtigsten Werkzeuge von Dissidenten wurde. Dieser Übergang wird oft mit dem Aufstieg der "russischen Rockmusik" in Verbindung gebracht, wo die Texte viel bemerkenswerter waren als die Musik selbst – in vielen Fällen wurden sie von professionellen Dichtern geschrieben und spiegelten größtenteils Proteststimmungen wider. Die Band Kino eroberte mit ihrem Hit "Wir wollen Wandel!" die Herzen und Köpfe der Leute und die Rockband Nautilus Pompilius machte sich in ihrer eigenen Kritik am Sowjetsystem über die Idee lustig, "angekettet durch eine Kette" zu sein.

Diese Tradition wurde zusammen mit ihrer rebellischen Natur von der Sowjetunion auf die Russische Föderation übertragen. Verwöhnt von hoher Kunst, durchtränkt von postmoderner Literatur und Musik, inspiriert von der westlichen Kultur. Beispiele dafür finden sich in den Gedichten des im Exil lebenden Schriftstellers Wiktor Schenderowitsch oder dem Projekt "Bürger-Poet", das das häusliche Leben und die Politik aus der Sicht eines Oppositionsaktivisten verspottete. Dasselbe gilt für die Musik, obwohl "russische Rockmusik" schließlich durch "russische Rapmusik" ersetzt wurde. In vielerlei Hinsicht besetzte sie dieselbe Nische von Kritik und Satire und war durch eine starke liberale Ausrichtung gekennzeichnet. Dieser Zustand blieb über 30 Jahre lang relativ unverändert, bis die Kämpfe in der Ukraine in diesem Frühjahr ausbrachen.

Wandel an der kulturellen Front

Ich küsste seine kalten, toten Lippen,

ich steckte einen Ring an seinen steifen Finger.

Ich dachte, ich werde nicht lange brauchen, mein Lieber,

und der Krieg ging in der Zwischenzeit weiter.

Diese Zeilen stammen aus einem kürzlich veröffentlichten Gedicht mit dem Titel "Rufzeichen: Paganel" von Anna Dolgarewa, die es ihrem Verlobten widmete, einem Hauptmann der Artillerie, der 2015 im Kampf in der Volksrepublik Lugansk fiel.

Anna hat viele Jahre in der Ukraine gelebt. Sie arbeitete in Kiew, aber der Euromaidan verdrängte sie: Zuerst verließ sie die Hauptstadt in Richtung Donbass, dann zog sie nach Russland. Dort fand ihr Schreibstil Beachtung.

Viele von Annas Gedichten handeln von den Ereignissen des Jahres 2014 im Donbass, die als "Russischer Frühling" bekannt geworden sind, und viele sind beliebte Gedichte auf Literaturfestivals sowohl in Russland, als auch in den von Russland befreiten ehemaligen ukrainischen Gebieten. Als Dichterin erforscht Dolgarewa sowohl wie ein Krieg Liebe und Beziehungen als auch das tägliche Leben der Menschen in den Kriegsgebieten, insbesondere der Menschen im Donbass, beeinflusst:

Ein Krieg ist in die Stadt gekommen.

Bomben fallen auf die Stadt.

In der Stadt brach eine Wasserleitung,

und das Wasser fließt, 

ein langer schlammiger Strom,

der sich beim Fließen mit menschlichem Blut vermischt.

Viele ihrer Gedichte widmet sie auch russischen Soldaten und Offizieren:

Ich sehe sie den Fluss Smorodina überqueren,

den Fluss Donets, den Fluss Styx.

Kämpfe für mein vergangenes sowjetisches Heimatland,

für Freiheit für dich und mich.

Bis zu einem gewissen Grad ist Annas Schreibstil eine Überarbeitung feministischer Poesie, mit einer starken Betonung auf die Themen Krieg und Patriotismus. Russland erlebt eine ganze Reihe neuer Autoren von Belletristik und Poesie, die in diesem Genre wirken, obwohl Kritiker glauben, dass die meisten von ihnen sich zu stark auf die westliche literarische Tradition stützen.

Was den Schreibstil von Dolgarewa auszeichnet, ist, wie es ihr gelingt, feministische Poesie mit einem Genre nahtlos zu verschmelzen, das traditionell auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht, nämlich Kriegspoesie.

Ein weiterer Dichter, der sich durch die Militäroperation inspirieren lässt, ist Igor Karaulow. Im Gegensatz zu vielen anderen ist er seit geraumer Zeit ein gefeierter Schriftsteller und gehört mit Geburtsjahr 1966 einer anderen Generation an. Viele seiner Werke haben positive Rezensionen von liberalen Kritikern und literarischen Berühmtheiten erhalten.

Bis zum 24. Februar 2022 produzierte Karaulow hauptsächlich postmoderne Poesie, die reich an Metaphern und abstrakter Symbolik ist. Nach dem Start der Militäroffensive begann er jedoch, seine Kunst zu nutzen, um seine Position als Bürger zu den laufenden Ereignissen im In- und Ausland zum Ausdruck zu bringen. Zum Beispiel schrieb er ein ergreifendes Epigramm über den Besuch des US-Repräsentantenhauses in Taiwan:

Die Welt entgleiste, als Pelosi von Bord ging.

Es gibt keine Möglichkeit, Taiwan zu verlassen.

Bete für unsere Sünden, oh Papst von Rom,

und halte dich fest an deinem Vatikan-Banner.

Alexander Pelewin – nicht zu verwechseln mit dem populären russischen Romanautor Wiktor Pelewin – vervollständigte ebenfalls seine Entwicklung von der Postmoderne zum Patriotismus in der Poesie. Sein Roman "Pokrow-17", der Prosa und Poesie vermischt, zeichnet sich ebenfalls durch eine Mischung von Genres und Realitäten aus und wurde kürzlich mit dem Preis für literarische Bestseller der Nation ausgezeichnet.

Nach Beginn der militärischen Sonderoperation wurde die Poesie von Alexander Pelewin bei den Lesern noch beliebter als seine Belletristik. Er versäumte es nicht, auf die durch den Konflikt provozierte Welle der freiwilligen Auswanderung zu reagieren und präsentierte eine Alternative zur Position von Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen wollen:

Es tut mir leid, dass ich nicht gehen werde.

Es tut mir leid, dass es mir so schlecht geht.

Ich wäre lieber schrecklich und dunkel, 

in meinem schrecklichen und dunklen Land.

Maria Watutina, eine gefeierte Dichterin, Dramatikerin und Journalistin, gehört zu denen, die nicht nur aktuelle Ereignisse beobachten, sondern auch rechtzeitig darauf reagieren:

Die Welt verändert sich schneller denn je.

In der Zwischenzeit jedoch,

werden wahre Helden vom Schmutz der Welt ausgelöscht,

hinter einer Ecke

in einem feigen Komplott.

Rap, die Musik der Schützengräben

Viele bekannte Künstler entschieden sich als Reaktion auf die Militäroffensive dafür, das Land zu verlassen, darunter die Top-Rapper Oxxxymiron, Noize Mc und Face. Es gibt jedoch keine geschlossene Opposition von Künstlern und es gibt auch keine starken Hits, die eine gleiche Wirkung auf die Gesellschaft haben könnten, wie das Lied der Band Kino "Wir wollen Wandel!" in den 1990er-Jahren.

Inzwischen sind patriotische Rap-Songs auf dem Vormarsch. Rapper Ritsch beispielsweise hat kürzlich seinen neuen Track "Schmutzige Arbeit" veröffentlicht. Dieser ist den Soldaten gewidmet, die seine Heimat beschützen und dafür sorgen, dass die Menschen in Moskau, Sankt Petersburg, Kasan und anderen Städten und Gemeinden Russlands ein friedliches Leben führen können.

Auszug aus dem Liedtext:

Vier L auf der Schulter

[ein Hinweis auf das Hakenkreuz in einigen ukrainischen Militärinsignien – Anm.d.R.]

Die Füße der Friedensmörder werden kälter,

Iskander-Raketen werden fliegen, riesig wie Felsbrocken,

von den Grads getroffene Ziele werden schwelen.

Refrain:

Diese Typen machen deine Drecksarbeit,

es gibt keine Ruhe für sie, keinen einzigen Vorteil.

Sie stehen unter Beschuss und die Feinde lauern,

dieser Planet ernährt sich von Blut, das in die Dunkelheit hinabsteigt.

Akim Apatschew ist ein neuer Name in der Poesieszene, der sofort viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Er ist ehemaliger ukrainischer Staatsbürger und Einwohner von Mariupol. Er ist auch der Autor des Lieds "Sommer und Armbrüste" über Russlands Militäroperation in Syrien, das auf TikTok viral ging. Der Titel war bei Teenagern sehr beliebt und wurde in Moskaus Bars und Clubs oft gespielt.

Als die heftigen Kämpfe um seine Heimatstadt endeten, tat Apatschew etwas sehr Mutiges und Aufregendes. In Zusammenarbeit mit Daria Frey nahm er ein Lied mit dem Titel "Eine Ente schwimmt" auf, der sich auf ein ukrainisches Volkslied bezieht. Dieses Stück ist wichtig, da es die Befreiung einer ukrainischen Stadt aus dem Griff des Kiewer Regimes feiert und auf Ukrainisch vorgetragen wird. Der Refrain lautet:

Eine Ente schwimmt, Mädchen tanzen,

in Asowstal sind Dämonen begraben,

in der Steppe brennt ein Haus,

unsere Liebe Frau bringt das Baby zur Welt.

Die Fabrik Asowstal war die letzte Verteidigungslinie der ukrainischen nationalistischen Kämpfer. Angehörige des Asow-Bataillons der ukrainischen Armee versteckten sich lange Zeit auf dem Gelände dieses Werks, bevor sie sich der russischen Armee ergaben. Von besonderer Bedeutung ist die Zeile: "Dies ist meine Heimat, meine Krim, mein Land, und ich werde auch meine ukrainische Sprache mitnehmen." Die Kluft zwischen Russen und Ukrainern, die in der westlichen Denkweise existiert, wird hier herausgefordert.

Der in Mariupol geborene Künstler singt auf Ukrainisch: "Das sind meine Heimat und meine Sprache, ich unterstütze das Kiewer Regime nicht." Dies sind die ersten Zeilen eines ukrainischen Künstlers, der den militärischen Sondereinsatz für gerechtfertigt hält und bereit ist, an der Seite Russlands für Frieden für alle zu kämpfen. Ein Ukrainer, der ein Recht auf seine Heimat, seine Kultur, seine Zukunftsvision für sein Land hat und der bereit ist, sein Leben dafür zu geben.

Eine besondere Erwähnung verdient ein bekannter Produzent und ukrainischer Staatsangehöriger aus Kiew Yuri Bardasch. Er hielt sich eine ganze Weile aus der Politik heraus, bis er letzten Sommer seinen Track "Posiziya" – der Titel bezieht sich auf die politische Position des Autors – aufnahm, in dem er das ukrainische Regime anprangerte. Seine Heimatstadt Altschewsk steht nun unter der Kontrolle der Volksrepublik Lugansk. In seinem Lied erklärt Bardasch:

Was hat der Osten mit Bandera zu tun?

Das ist nicht unser Held, nicht unser Glaube.

Wir haben Stachanow und Altschewski,

Helden der Arbeit, große Experten.

Zudem fordert er im Lied Boris Johnson und Joe Biden auf, "zur Hölle zu fahren". Bardasch musste wegen seiner politischen Ansichten nach Moskau flüchten und nun wünschen ihm seine ehemaligen ukrainischen Fans den Tod. Die Geschichte von Yuri Bardasch schafft einen einzigartigen Präzedenzfall: Er ist die erste bekannte ukrainische Persönlichkeit, die sich offen für Russland eingesetzt hat. Er hatte keine Angst zu sagen, was viele aus Angst vor der Verfolgung durch den Sicherheitsdienst der Ukraine nicht wagen würden.

Im Großen und Ganzen gibt es zwei Dinge über die von der Militäroperation inspirierte Kunst zu sagen. Erstens übernimmt sie eine Nische, die zuvor von anderen populären Formen und Genres besetzt war, und reicht von feministischer Poesie bis zum gepfefferten Spottgedicht. Erwähnenswert ist auch, dass diese Art von Werken sowohl von Autoren geschrieben werden, die der russischen literarischen Tradition treu bleiben und eine klare Vorliebe für epische Erzählungen haben, als auch von solchen, die aus dem Westen stammende Traditionen neu erfinden. Aber all dies ist wahrscheinlich erst der Anfang.

Übersetzt aus dem Englischen.

Sergei Isotow ist Journalist und russischer Dichter aus Moskau.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.