Meinung

Morgen wäre es zu spät gewesen – Russland hat sich im letzten Moment neu erfunden

Der bei einem ukrainischen Terroranschlag Anfang Mai schwer verletzte Schriftsteller Sachar Prilepin reflektiert, wie der Konflikt mit dem Westen Russland und seine jungen Generationen verändert. Dabei standen die Jüngeren unter dem Einfluss westlicher Werte und Russland wäre mit einem "Weiter so" womöglich bald nicht mehr zu retten gewesen.
Morgen wäre es zu spät gewesen – Russland hat sich im letzten Moment neu erfundenQuelle: Sputnik © Ilja Pytalew / RIA Nowosti

Von Sachar Prilepin

Die Tatsache, dass wir jetzt gegen die ganze Welt kämpfen, war in der Tat unsere letzte Chance, zu siegen und uns selbst zu bewahren.

Nein, ich will nicht sagen, dass unsere Jugend schlecht ist – unsere Jugend ist ausgezeichnet, und in den letzten zwei Jahren ist sie noch besser geworden.

Aber wenn die aufstrebende russische Gesellschaft noch zehn Jahre lang von dem Blogger Poperetschny, dem Rapper Oxxxymiron*, dem Schriftsteller Gluchowski**, all den Topregisseuren, Anton Dolin*** und den Studiogästen von Iwan Urgant erzogen worden wäre, wäre es unmöglich gewesen, das Land in zehn Jahren in die andere Richtung zu lenken.

Nicht die erste Militäreinheit stellen ich und meine Kameraden derzeit zusammen, und ich beobachte es immer wieder: Ja, es melden sich auch junge Leute freiwillig – tolle Kerle übrigens, goldene Kerle! - aber das Rückgrat der Freiwilligen ist immer im Alter von 40-Jahren. Die letzte sowjetische Generation, die eine andere Prägung hat. Ihnen wurde in ihrer Kindheit bei politischen Briefings das koloniale Grinsen des Westens erklärt. Damals zweifelte unsere Generation vorübergehend daran und glaubte an die westlichen (Anti-)Werte, aber die Jahre nach 1991 haben alles wieder an seinen Platz gerückt. Wenn Ihnen in Ihrer Kindheit und Jugend einmal ein paar einfache Wahrheiten beigebracht wurden, zum Beispiel in der militärischen Grundausbildung, dann werden diese Wahrheiten, auch wenn sie nicht sofort verstanden werden, eines Tages ins Bewusstsein zurückgerufen werden.

Aber in zehn Jahren wäre unsere Generation schon fast 60 gewesen – und für die meisten von uns hätte sich dieses Alter als Handicap erwiesen: Was hätten wir im Krieg schon ausrichten können, wenn schon die Treppe in den dritten Stock zu Kurzatmigkeit führt.

Was nach zehn weiteren Jahren des prowestlichen "Weiter so" im durch und durch liberalen Russland unserer Tage mit den Generationen nach der unseren geschehen wäre – ist kein Rätsel. Es ist offensichtlich, was in diesem Fall geschehen wäre!

Es wären nicht 1,5 Millionen Menschen über den Oberen Lars nach Georgien geflüchtet, sondern mindestens 15 Millionen auf einmal. Und man könnte von Glück reden, wenn sie geflüchtet wären und sich nicht in Moskau in der Nähe des Kremls versammelt hätten.

Jetzt sehen wir, wie das heutige Russland in schrecklichen Geburtswehen ein neues, stärkeres Land gebiert. Die Geburt geht nur langsam voran, manchmal scheint es, als ginge es gar nicht voran, und doch gibt es immer mehr Chancen, dass es gut gehen wird und wir uns in neuer Stärke sammeln. Und immer weniger Chancen, zum vorherigen Zustand zurückzukehren.

Die Stricke in die Vergangenheit werden einer nach dem anderen gekappt – Gott sei Dank.

Die Beteiligung des Volkes, einschließlich seiner jüngsten Vertreter, an der laufenden Konfrontation wird immer größer. Es gibt bereits Millionen dieser jungen Menschen: diejenigen, die gedient haben, diejenigen, die sich freiwillig meldeten, oder auch diejenigen, die einfach nur in Familien aufgewachsen sind, in denen der Vater oder der ältere Bruder im Krieg gekämpft hat.

Jetzt können wir sicher sein, dass die nächste Generation das Erbe unserer Staatlichkeit annehmen und weitertragen wird.

Und wenn ein Vierteljahrhundert später neue listige Politiker (sie kommen immer wieder!) beginnen, das Leben in Russland auf dem Prinzip der Unterwürfigkeit gegenüber dem allgütigen Westen aufzubauen, wenn sie wieder immer mehr nationale Interessen im Tausch gegen persönliche Vorteile aufgeben, wird sich in den Köpfen dieser Generation – wie jetzt bei uns – im richtigen Moment das heute gelernte Programm zuschalten.

Denn sie hat sich hier und jetzt gut eingeprägt, wie die Dinge wirklich sind.

Sie hat sich eingeprägt, wer unser Freund und wer unser Feind ist.

Sie hat sich den Namen des Vaterlandes eingeprägt und die Gesichter ihrer gefallenen Kameraden haben sich ihr für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

* Aufgenommen in das Register der Personen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben, durch Beschluss des Justizministeriums der Russischen Föderation vom 07.10.2022.

** Aufgenommen in das Register der Personen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben, gemäß dem Beschluss des Justizministeriums Russlands vom 07.10.2022.

*** Aufgenommen in das Register der Personen, die die Aufgaben eines ausländischen Agenten wahrnehmen, durch Beschluss des russischen Justizministeriums vom 14.10.2022.

Übersetzt aus dem Russischen.

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