Meinung

Wagenknecht-Partei zur EU-Wahl: Ihr Antiimperialismus lässt den Mainstream wüten

Kaum präsentierte das Bündnis Sahra Wagenknecht seinen ersten Programmentwurf zur EU-Wahl, tobte der Mainstream: Es torpediere EU und NATO, sei die fünfte Kolonne Putins, hieß es. In der Tat ist das Papier bemerkenswert antiimperialistisch. Trotzdem verharrt es auf Symptomebene.

Von Susan Bonath

Der Antritt der neuen Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit" (BSW) zur Europawahl im Juni erhitzt den Mainstream. Dabei ist die teils sozialdemokratische, teils konservative Ausrichtung ihres jüngst veröffentlichten Programmentwurfs weit weg davon, das Wirtschaftssystem zu "sprengen". Doch etwas triggert das westliche Establishment: BSW torpediert die imperialistische Kriegs- und Expansionslust der EU und der NATO, fordert zudem Frieden und Kooperation mit Russland.

Größtes Übel für den in kriegslüstern-antirussischer Hetze gefangenen Mainstream scheint das BSW-Ansinnen zu sein, friedlich mit Russland zum gegenseitigen Vorteil zu kooperieren und Rüstungsexporte in die Ukraine sofort zu stoppen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) blies besonders heftig die propagandistische Sirene. Unter der Überschrift "Wagenknecht spaltet" war dort kürzlich gleich im ersten Absatz zu lesen:

"Mit dem Entwurf für ihr Europawahlprogramm zeigen Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter, dass sie mehr sind als nur die fünfte Kolonne Moskaus. Ihr "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) will nicht nur Putin den Stopp aller westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine anbieten, um ihn an den Verhandlungstisch zu bringen, also "Frieden" um fast jeden Preis. Es will auch das Europa abschaffen, wie wir es kennen."

Öffentlichkeitswirksame Kritik an der antirussischen Kriegstreiberei, der massiven Aufrüstung der NATO-Staaten sowie der undemokratischen Ausrichtung der EU als europäischer Arm des aggressiven US-Imperialismus ist in Zeiten wie diesen höchst unerwünscht. Neben diesen gibt es aber noch andere interessante Punkte im BSW-Entwurf.

Monopole zurückdrängen

Unter dem ausführlichsten Punkt "wirtschaftliche Vernunft" klingt vieles positiv, fast revolutionär: Die politische Macht der EU-Kommission soll beschnitten, darüber die Einflussmöglichkeiten der Mitgliedsstaaten auf die EU erhöht werden, zudem sollen diese stärker miteinander kooperieren, etwa beim Ausbau von Infrastruktur und bei der Entwicklung umwelt- und klimafreundlicher Technologien.

Die EU müsse große Konzerne effektiv an der Bildung von Kartellen hindern und vor allem US-amerikanische Big-Tech- und Finanzkonzerne zurückdrängen. Europa benötige eine eigene digitale Infrastruktur, so BSW. Dazu müsse die EU verstärkt kleinere regionale Unternehmen sowie die kommunale Vergabe von Aufträgen an diese fördern.

Das zu Migration und sozialen Verwerfungen führende wirtschaftliche Gefälle innerhalb der EU will BSW beseitigen. Einheitliche Besteuerung soll etwa die Flucht von großen Unternehmen in EU-Staaten verhindern, wo sie zulasten des Gemeinwesens billiger produzieren können. Ausufernde Geflechte von "Megabanken" oder Finanz-Technologie-Konzernen müsse die EU verbieten und aufsplitten.

Die Energiepolitik sei an soziale und Klimastandards zu knüpfen. Dafür seien ein sofortiger Stopp von aus umweltschädlichem Fracking gewonnenem LNG, Kooperation mit Russland und "mehr Technologie-Offenheit" nötig.

CO₂-Bepreisung belastet Bürger

Die CO₂-Bepreisung sei kein geeignetes Mittel, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, so die neue Partei. Letztlich gehe dies zulasten der Verbraucherpreise. Auch müsse die EU die Entwicklung eigener Speichertechnologien sowie regionale Stadtwerke und Energieprojekte von Bürgern besonders fördern. Energienetze seien komplett "in nationale Regie" zu geben.

Kleine Landwirtschaftsbetriebe und Bauern will BSW besser vor großen Agrarkonzernen schützen. Die Spekulation mit Boden und Nahrungsmitteln müsse die EU ebenso wie Gentechnik auf dem Acker verbieten, die Sicherheitsauflagen für Pflanzenschutzmittel-Einsatz und Lebensmittel hingegen erhöhen.

Außerdem fordert das BSW von der EU, "stabile Handelsbeziehungen" zu knüpfen und Abkommen an soziale Standards bei der Produktion zu binden, um Billigkonkurrenz einzudämmen. Das Klagerecht für Konzerne gegen Mitgliedsstaaten vor privaten Schiedsgerichten soll die EU ganz abschaffen.

Vernünftig, aber nur auf Symptomebene

Das BSW bringt wichtige Punkte, die die Realität trefflich beschreiben, aber eines verkennen: Die EU wurde bereits als imperialistisches Konstrukt konzipiert, oder anders ausgedrückt: als eine Art wirtschaftliche Enklave und verlängerter militärischer Arm des US-Imperialismus in Europa. BSW suggeriert eine "Fehlentwicklung", die nicht existiert – sie war genau so geplant.

Seit Langem ist sichtbar, dass sich das westliche Kapital konkurrenzbedingt vor allem bei großen US-Konzernen konzentriert, also monopolisiert. Freilich fördern die USA diese Entwicklung aus ökonomischem und machtpolitischem Eigennutz. Imperialistische Staaten müssen den Zugriff auf Märkte und Ressourcen ständig erweitern, um ganz oben zu bleiben. Das ist klassischer, moderner Imperialismus.

Wohl beruht die EU auch auf der Hoffnung, mit vom US-Imperialismus profitieren, sich zugleich vor Angriffskriegen des Imperiums schützen zu können. Ihre Ausdehnung sowie die NATO-Erweiterung gen Osten sichern den USA wiederum willfährige Mitspieler bei der Durchsetzung ihrer Macht. Langfristig führt das die europäische Wirtschaft in den Niedergang, wie BSW richtig erkennt. Imperialismus hat schließlich nichts mit "Völkerfreundschaft" am Hut, sondern dient allein den Interessen des Monopolkapitals.

Seit vielen Jahrzehnten setzen die USA ihre imperialistischen Ziele mit einem riesigen Militärapparat letztlich kriegerisch durch. Das macht ein Abnabeln der EU umso nötiger, aber auch gefährlicher und aktuell politisch unwahrscheinlich. Diese Ursachen werden vom BSW nicht konkret benannt, es verharrt auf Symptomebene. Eine politische Kraft, die in diese andere Richtung zieht, ist trotzdem so nötig wie nie.

Soziale EU-Standards

Ungleiche Löhne, Armutsquoten und Lebensstandards spalten die EU-Staaten und sorgen für Migration. BSW will das ändern. Dafür soll die EU eine bereits bestehende Richtlinie endlich durchsetzen. Sie besagt, dass jeder EU-Staat seinen Mindestlohn auf 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns heraufsetzen soll. In Deutschland wären das laut BSW derzeit etwa 14 Euro. Zudem müsse die EU soziale Grundrechte einführen, die auch für Einzelpersonen vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar wären.

Bei der Daseinsvorsorge, zu denen die Partei Wohnen, Wasser, Energie und Gesundheitswesen zählt, müsse die EU weitere Privatisierungen stoppen. Diese Branchen gehörten in öffentliche Hand, heißt es. Bei ihnen dürfe die Schuldenbremse nicht greifen. Finanziert werden könne dies etwa durch eine EU-weit einheitliche Gewinnsteuer für Großkonzerne von mindestens 25 Prozent sowie eine "echte" Finanztransaktionssteuer. Das Verschieben von Gewinnen in sogenannte Steueroasen müsse mit Strafsteuern belegt werden.

Überfällig, aber nur bedingt umsetzbar

Die sozialen Verwerfungen innerhalb der EU sind gigantisch und nehmen zu. Die Armutsquoten sind vor allem in Ost- und Südeuropa anhaltend hoch. Arbeits- und Armutsmigration von armen in reichere EU-Länder ist großes ein Problem. Aber auch in den imperialistischen Zentren, vorneweg Deutschland, steigt die Armut seit der Jahrtausendwende zunehmend an.

Einheitliche Sozialstandards sind daher überfällig. Durch höhere Besteuerung von Superreichen und Großkonzernen würden dafür auch Gelder frei. Solange jedoch viele Staaten beim Privatkapital massiv überschuldet sind, nützen Vorgaben wenig, die wiederum mit anderen Bestimmungen kollidieren.

Wenn BSW fordert, Privatisierungen von Betrieben der Daseinsvorsorge zu stoppen, ist das zwar dringend geboten, kommt aber reichlich spät. Das meiste ist nämlich schon in Privathand. Man müsste also über Enteignungen und Rückführungen in die öffentliche Hand nachdenken, etwa von Krankenhäusern, Immobilien- und großen Energiekonzernen. Davon ist nicht die Rede – es wäre wohl auch derzeit nicht durchsetzbar.

Frieden und Kooperation mit Russland

Friedenspolitisch triggert das BSW das Establishment wohl am meisten. Die Partei dringt auf Abrüstung und Diplomatie. Die EU-Erweiterung sei zu beenden, Friedenslösungen mit Russland voranzutreiben und Rüstungsexporte in die Ukraine und andere Kriegsgebiete sofort zu stoppen. Im Entwurf heißt es zudem:

"Die Aufnahme von Beitrittsverhandlung mit der Ukraine und Moldau oder Georgien lehnen wir ab."

Die EU solle von militärischer auf zivile Konfliktlösung umstellen, von einem Austritt aus der NATO ist aber nicht die Rede. Stattdessen fordert BSW die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips der Länder für die Beteiligung an Militäreinsätzen, das derzeit in ein Mehrheitsprinzip umgewandelt werden soll. Die USA müssten ferner dazu gedrängt werden, ihre Atomwaffen aus Europa abzuziehen.

Migrationsregeln verschärfen

Überdies fordert die neue Partei eine "EU-Strategie, die illegale Migration stoppt und Perspektiven in den Heimatländern vergrößert". Warum dies dem Thema Frieden zugeschlagen wurde, ist nicht bekannt. BSW behauptet, das Asylrecht beibehalten zu wollen, will es aber auf politisch Verfolgte reduzieren. Dazu seien an den EU-Außengrenzen Zentren einzurichten, um dort Verfahren durchzuführen.

Um die Zahl der Flüchtlinge zu verkleinern, müsse die EU aber auch die Fluchtursachen stärker bekämpfen, und zwar durch eine "Neuausrichtung ihrer Außen-, Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik". Diese müsse darauf zielen, "die wirtschaftlichen Bedingungen in den Ländern des Südens zu verbessern". BSW denkt dabei etwa an diplomatische Konfliktlösungen, Verbot von Rüstungsexporten in Krisengebiete und völkerrechtswidrigen Militäreinsätzen. Internationale Hilfsorganisationen vor Ort sollen mehr Mittel erhalten.

Stoppen will BSW auch die Anwerbeprogramme für Fachkräfte, welche die Herkunftsländer ökonomisch schwächen. Fachkräfte müssten die EU-Staaten selbst ausbilden, so BSW. Bereits integrierten Flüchtlingen und Migranten soll die EU hingegen verlässliche Perspektiven bieten.

Expansion des US-Imperialismus muss aufgehalten werden

Auch die friedenspolitische Initiative von BSW ist überfällig. Fest steht: Die gefährlichen kriegerischen Expansionsbestrebungen des US-dominierten westlichen Imperialismus müssen aufgehalten werden, um einen drohenden Weltkrieg zu verhindern. Mehrheitspolitisch aber sieht es hier eher düster aus.

In Sachen Migrationspolitik bringt das BSW viel Wahres auf den Punkt. Selbstverständlich kann es nicht gelingen, jährlich Hunderttausende Menschen aus anderen Kulturkreisen aufzunehmen, wenn für diese weder Integrationsprogramme noch Wohnungen bereitstehen.

Hauptgrund für wachsende Flüchtlingszahlen weltweit sind imperialistische Kriege, die ausbeuterische Politik des Westens und die wirtschaftliche Ausplünderung von Ländern durch multinationale Großkonzerne. Die dadurch bedingten sozialen Verwerfungen befeuern Konflikte maßgeblich. Ohne eine Zerschlagung von Mono- und Oligopolen, die Eindämmung der Privatwirtschaft und die komplette Neuausrichtung der westlichen Politik sind die Fluchtursachen aber niemals vollständig zu beheben.

Vor diesem Hintergrund werden die BSW-Ziele, so auch nur ansatzweise an ihnen gearbeitet werden könnte, kaum zu nennenswerten Erfolgen führen. Es würden sich die Flüchtlinge wohl in unwürdigen Lagern an den EU-Außengrenzen wiederfinden und Kriegsopferzahlen nur weiter steigen. Private Großkonzerne und ihre politischen Lobbyisten kann man nicht einfach nur dazu überreden, den Süden nicht mehr auszuplündern.

Freiheit, Demokratie – aber das falsche System

Weiterhin plädiert das BSW für "Freiheit und Demokratie". Es will die Überwachung und entsprechende EU-Diktate eindämmen, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie Menschenrechte stärken. Das als Digital Services Act bekannte Überwachungsgesetz müsse die EU zurücknehmen.

Das ist alles sehr begrüßenswert. Ausgeblendet bleibt aber auch hier ein Teil der Realität: nämlich die Klassengesellschaft, in der die Herrschenden natürlich alles unternehmen, um die Unterdrückten bestmöglich zu kontrollieren. Das Verfügbare werden sie dafür auch nutzen. Macht rekrutiert sich primär aus wirtschaftlichem Eigentum und dessen politischem Schutz – ein Teufelskreis.

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