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Xi Jinping: "Veränderungen von einer Größenordnung wie seit hundert Jahren nicht"

Die Rede des chinesischen Präsidenten und Parteivorsitzenden Xi Jinping liefert einen selten deutlichen Einblick, wie die chinesische Führung Chinas Entwicklung lenken will und die globale Entwicklung bewertet. Hier sind die wichtigsten Punkte zusammengefasst.
Xi Jinping: "Veränderungen von einer Größenordnung wie seit hundert Jahren nicht"Quelle: www.globallookpress.com © Yao Dawei

Von Dagmar Henn

Der letzte Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) liegt fünf Jahre zurück; das allein ist schon ein Grund, die Rede des Vorsitzenden Xi Jinping genauer zu betrachten. Dazu kommt aber noch, dass China heute eine global wesentlich sichtbarere Rolle spielt als zur Zeit des vorletzten Parteitags vor zehn Jahren, als das letzte Mal grundsätzliche Ziele festgelegt wurden, und gemeinsam mit Russland die bisherige Weltordnung herausfordert.

Eine solche Rede, das sollte man vielleicht dazu sagen, ist kein Text, der von einer Person verfasst wurde, sondern ein Rechenschaftsbericht für das gesamte Zentralkomitee und eine Festlegung für die Zukunft; also etwas ganz anderes als Parteitagsreden westlicher Politiker, die immer auch der Werbung für die Person dienen und weit weniger einer programmatischen Festlegung. Es ist nicht nur Xi, der hier spricht. Die Aussagen dieser Rede wurden gründlich diskutiert, und am Ende dieses Prozesses steht ein Dokument, das der ganzen gigantischen Partei mit 96 Millionen Mitgliedern die Richtung für das nächste Jahrzehnt vorgibt.

Wenn daher gesagt wird, man stehe vor "globalen Veränderungen von einer Größenordnung, wie man sie hundert Jahre nicht gesehen hat", ist das keine Bewertung, die von einer Person ausgeht, wie mächtig sie auch sein mag, sondern eine Einschätzung, die von der gesamten chinesischen Führung geteilt wird. Diese Aussage steht ganz zu Beginn der Rede, und die Zeit, auf die dabei angespielt wird, sind die Jahre nach 1917, nach der Oktoberrevolution in Russland, die gleichzeitig der Beginn einer globalen antikolonialen Bewegung war. Dessen ist man sich im Westen nicht so bewusst; aber gerade in Asien, in China, aber ebenso in Vietnam, oder in Lateinamerika sehr wohl.

Dann folgt die Rechenschaft über die letzten zehn Jahre. "Mit drastischen Veränderungen der internationalen Landschaft konfrontiert, insbesondere mit Versuchen von Außen, China zu erpressen, einzuhegen, zu blockieren und maximalen Druck darauf auszuüben, haben wir unsere nationalen Interessen an die erste Stelle gesetzt, uns auf die inneren politischen Sorgen konzentriert und eine feste strategische Entschlossenheit beibehalten. … Durch diese Anstrengungen hindurch haben wir Chinas Würde und Hauptinteressen bewahrt und uns eine gute Position verschafft, um die Entwicklung zu verfolgen und Sicherheit zu gewährleisten."

Vor zehn Jahren, so führt er aus, stand China vor inneren Problemen. Wirtschaftliche Ungleichgewichte, etwa zwischen Stadt und Land, aber auch ein zunehmender Einfluss westlicher Ideologie: "Muster irregeleiteten Denkens, wie die Verehrung des Geldes, Hedonismus, Egozentrik und historischer Nihilismus waren verbreitet, und der Diskurs online war angefüllt mit UNOrdnung. Das alles hatte ernste Auswirkungen auf das Denken der Menschen und die öffentliche Meinung."

Das Ziel, das sich die Partei vor zehn Jahren gesetzt hatte, lautete, China zu einer "Gesellschaft bescheidenen Wohlstands" zu machen. Im vergangenen Jahr, zum Jubiläum der Gründung der KPCh vor einhundert Jahren, hatte Xi erklärt, dieses Ziel sei nun erreicht; das nächste laute, den Sozialismus chinesischer Prägung zu erreichen.

Es wird genau benannt, wie die Erreichung dieses "bescheidenen Wohlstands" aussah. Auch hier ist zu sehen, wie Rechenschaft abgelegt wird. "Insgesamt 832 verarmte Bezirke und beinahe hundert Millionen armer Landbewohner wurden aus der Armut geholt, darunter mehr als 9,6 Millionen von Armut betroffener Personen, die aus unwirtlichen Gegenden umgesiedelt wurden."

"Im vergangenen Jahrzehnt ist Chinas GDP von 54 Billionen Yuan auf 114 Billionen Yuan gewachsen, was 18,5 Prozent der Weltwirtschaft darstellt, eine Steigerung um 7,2 Prozent. China blieb die zweitgrößte Wirtschaft der Welt, und das Sozialprodukt pro Kopf wuchs von 39.800 Yuan auf 81.000 Yuan. Es hält den ersten Platz auf der Welt bei der Getreideproduktion, und hat für seine Bevölkerung von über 1,4 Milliarden für Nahrungs- und Energiesicherheit gesorgt."

Es gibt noch eine Menge weiterer Zahlen, die die zahlreichen großen Fortschritte belegen, darunter den Bau des weltgrößten Netzes an Hochgeschwindigkeitszugtrassen; jedenfalls kann es keinen Zweifel daran geben, dass die KPCh in den letzten zehn Jahren einiges richtig gemacht haben muss.

Eine steigende Lebenserwartung, eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens, medizinische Versorgung, und über 43 Millionen Wohnungen in vernachlässigten städtischen Gebieten und über 24 Millionen Häuser auf dem Land, die gebaut wurden, schließlich über eine Milliarde Internetnutzer. Das sind die Voraussetzungen für die angestrebte "Verjüngung der chinesischen Nation".

"Materieller Überfluss und kulturell-ethische Bereicherung sind fundamentale Ziele einer sozialistischen Modernisierung. Materielle Not ist kein Sozialismus, ebenso wenig kulturelle Verarmung."

Mit kultureller Verarmung ist die Unkenntnis über die eigene Geschichte ebenso gemeint wie der Verlust moralischer Werte. Die Jahrestage, die in den letzten zehn Jahren begangen wurden, zuletzt das Gründungsjubiläum der Partei, wurden genutzt, um die Geschichte auf allen Ebenen ins Gedächtnis zu rufen, bis hin zu Fernsehserien, die sich um die Entstehung der Partei und den Widerstand gegen die japanische Besetzung rankten. Die Reaktivierung dieser Erinnerung ist die Voraussetzung dafür, in den kommenden Auseinandersetzungen bestehen zu können.

"China wird nicht den alten Pfad von Krieg, Kolonisierung und Plünderei betreten, den einige Länder eingeschlagen haben. Dieser brutale und blutbefleckte Pfad der Bereicherung auf Kosten anderer hat bei den Menschen der Entwicklungsländer viel Leid ausgelöst. Wir werden fest auf der richtigen Seite der Geschichte und der Seite des menschlichen Fortschritts stehen."

Muss man erklären, welche Länder gemeint sind?

"Die Versuche von außen, China zu unterdrücken und einzuhegen, können jederzeit eskalieren. Unser Land ist in eine Phase der Entwicklung eingetreten, in der strategische Möglichkeiten, Risiken und Herausforderungen gleichzeitig erscheinen und Unsicherheiten und unvorhergesehene Faktoren auftauchen. … Daher müssen wir uns möglicher Gefahren besser bewusst werden, darauf vorbereitet sein, mit Worst-Case-Szenarien umzugehen und bereit sein, starken Winden, hohen Wellen und selbst gefährlichen Stürmen zu widerstehen."

Worst-Case-Szenarien, das sind unter anderem biologische und atomare Angriffe. Die Stürme stehen unter anderem für die Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA. Genau so dürfte das Publikum das auch verstanden haben. Und die strategische Möglichkeit? Das ist das Ende eines globalen kolonialen Systems, das die Entwicklungsvoraussetzungen für den überwiegenden Teil der Menschheit schlagartig verbessern wird. Das sind die "Veränderungen, wie man sie seit hundert Jahren nicht gesehen hat". Man darf dabei nicht vergessen, dass die Zuhörer auf diesem Parteikongress alle ein vergleichsweise hohes Maß an politischer Bildung haben und mit den globalen Entwicklungen vertraut sind. Daher genügt es, wenn diese Fragen nur angedeutet werden.

Die Voraussetzungen dafür, diese Zeit zu bestehen und die bis 2049 gesetzten Ziele zu erreichen, liegen überwiegend im Inneren. Einer der Punkte, der betont wird, ist die Weiterentwicklung der Demokratie auf lokaler Ebene, unter anderem mit einem Ausbau der direkten Demokratie. Dann wird die Entwicklung des Rechtssystems hervorgehoben, die Entwicklung der Sicherheit, die nicht nur Militär und Sicherheitsorgane, sondern auch soziale und ethische Fragen umfasst.

"Wir werden die Kampagne für gesellschaftliche Moral weiter fortsetzen, traditionelle chinesische Tugenden weitertragen, die Familienbindungen stärken, Werte und Traditionen und den intellektuellen und moralischen Standard der Jugend erhöhen. Wir werden daran arbeiten, dass die Gesellschaft sich um das öffentliche Wohl, öffentliche Moral und persönliche Integrität bemüht."

Nach den gegenwärtigen westlichen Maßstäben klingt das konservativ. Aber wer je Marx gelesen hat, weiß, dass das menschliche Ideal, das der echte Marxismus anstrebt, nie die zügellose Entfaltung des Individuums gegen die Gesellschaft war, sondern die Entwicklung der moralischen wie der intellektuellen Fähigkeiten aller im Einklang mit der und für die Gesellschaft. Was in dieser Rede als Menschenbild formuliert wird, ist keine Abweichung von der politisch-philosophischen Tradition, auf die sich Xi bezieht, sondern gerade ihre Hervorhebung.

Diesen Punkt zu begreifen, ist wichtig, nicht nur, weil er belegt, wie verzerrt das Schema von links und rechts im Westen mittlerweile ist, sondern auch, weil sich hier eine tiefere Resonanz zwischen Russland und China zeigt, die mitnichten reaktionär ist, wie das wild gewordene westliche Kleinbürgertum uns weismachen will.

Die moralischen Ansprüche werden gerade innerhalb der kommunistischen Partei hochgeschraubt. In der Rede geht es um die konsequente Bekämpfung der Korruption, um verschiedene Arten der Kontrolle über Partei- und Staatsstrukturen, sowohl durch Inspektion "von oben" als auch durch die Parteiorganisation "von unten"; Maßnahmen, die sowohl die gesellschaftliche Entwicklung auf Kurs halten als auch die Voraussetzungen herstellen sollen, damit die angekündigten Stürme überstanden werden können. "Dem Volk zu dienen ist das grundlegende Prinzip der Regierungsführung."

Das Thema Taiwan wird ebenfalls angesprochen. "Wir werden weiter mit größter Ernsthaftigkeit und äußersten Anstrengungen nach einer friedlichen Wiedervereinigung streben, aber wir werden nie dem Einsatz von Gewalt abschwören, und wir behalten uns die Möglichkeit vor, alle nötigen Mittel zu ergreifen. Das richtet sich einzig gegen die Einmischung äußerer Kräfte und die wenigen Separatisten, die eine 'Unabhängigkeit Taiwans' suchen, und ihre separatistischen Aktivitäten; es richtet sich keinesfalls gegen unsere Landsleute in Taiwan. Die Räder der Geschichte rollen auf Chinas Wiedervereinigung zu und auf die Verjüngung der chinesischen Nation. Die vollständige Wiedervereinigung unseres Landes muss verwirklicht werden, und sie kann das zweifellos."

China, heißt es in der Rede, wolle den Abstand zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden verringern und bei der Entwicklung anderer Länder helfen; das Ziel sei eine Weltordnung mit den Vereinten Nationen als Kern, auf Grundlage des Völkerrechts.

Das sind Aussagen, die im Grunde nur bereits Bekanntes bestätigen, wie es aus China immer wieder zu hören war. Die sich aber selbstverständlich gegen die "regelbasierte Weltordnung" richten, wie sie vom Westen verfochten wird.

Die abschließende Darstellung der Weltlage steht nicht am Schluss der Rede, sondern etwas davor; sie steht hier am Schluss, um ihr die Wucht nicht zu nehmen. Und noch einmal, das ist nicht die Sicht eines einzelnen Mannes, sondern die der chinesischen Führung.

"Heute ändern sich unsere Welt, unsere Zeit und die Geschichte wie niemals zuvor. Die historische Entwicklung hin zu Frieden, Entwicklung, Kooperation und wechselseitigem Vorteil ist nicht aufzuhalten. Der Wille des Volkes und die allgemeine heutige Tendenz werden die Menschheit letztendlich in eine leuchtende Zukunft führen. Und doch richten die hegemonialen, selbstherrlichen und schikanierenden Handlungen, Stärke zu gebrauchen, um Schwache einzuschüchtern, von anderen mit Gewalt und Täuschung zu nehmen und Nullsummenspiele zu spielen, gewaltigen Schaden an. Der Mangel an Frieden, Entwicklung, Sicherheit und guter Regierung wächst. All das stellt die menschliche Gesellschaft vor nie dagewesene Herausforderungen. Die Welt hat abermals einen Kreuzweg der Geschichte erreicht, und ihr zukünftiger Kurs wird von allen Völkern der Welt entschieden."

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