Meinung

Emmanuel Macron gegen die Windmühlen – oder: "L'énergie nucléaire? Oui, s'il vous plaît!"

Zur Person des französischen Präsidenten Emmanuel Macron kann man noch so kritisch eingestellt sein – sein Kampf gegen die Windmühlen der grünen Energetik dürfte jedoch deutlich erfolgreicher verlaufen als jener von Don Quijote – will er ihn doch mittels Atomkraft führen.

Kommentar von Iwan Kononow

Zur Nutzung der Kernenergie hatte die moderne Zivilisation schon immer eine komplexe Beziehung. Auf der einen Seite stehen Plakate noch aus der Zeit des Kalten Krieges, die etwa in der Sowjetunion "Friedliches Atom in jedem Haus" verkündeten, und auf der anderen Seite die potenziell tödlichen Gefahren, die von Kernreaktoren ausgehen. Denn wie sieht es mit der Bedrohung bei militärischen Konflikten aus? Sehen Sie selbst: Eine mächtige Artilleriegranate oder eine Rakete trifft ein Kernkraftwerk. Danach ist auch gänzlich ohne Atomwaffen die ganze Landschaft kontaminiert.

Nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 war die Welt erschüttert und wurde sehr nachdenklich. Die Folgen des Vorfalls sind noch immer nicht bewältigt. Der Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi oder I, als im März 2011 nach einem Erdbeben und einem Tsunami radioaktives Material austrat, stand zwar in seinem Ausmaß in keinem Verhältnis zu dem in der Sowjetunion – erwies sich aber in Bezug auf die Langzeittoxizität als nicht weniger schädlich, und zwar wegen der Nähe zum Meer. Dennoch hat die Menschheit die Kraft gefunden, den lähmenden Schleier der Angst abzuschütteln. Eigentlich konnte sie auch gar nicht anders: Denn ohne die sogenannte Primärenergie, eine der wichtigsten nicht erneuerbaren Quellen davon ist Uran, läuft eben nichts. Und kurz darauf verabschiedete die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) auf ihrer 55. Sitzung einen Aktionsplan zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit weltweit. Infolgedessen gewinnt der Aufwärtstrend auf dem globalen Kernenergiemarkt wieder an Bedeutung. Der Bau neuer Kernkraftwerke übersteigt inzwischen das Tempo von der Zeit vor Fukushima.

Atomkraft kommt zurück – obwohl nie wirklich weg

Bezeichnenderweise war der Geist der Kernkraft als solcher seinerzeit von französischen Wissenschaftlern aus der Flasche gelassen worden. Alle kennen die Namen von Pierre und Marie Curie noch aus der Schule. Pierre erhielt Anfang des 20. Jahrhunderts den Nobelpreis für seine Arbeiten, auch wenn das Phänomen der nuklearen Strahlung eigentlich im Jahr 1886 von einem anderen Franzosen entdeckt wurde, den oft nur Fachleuten bekannt ist: Antoine Becquerel. So wurde Frankreich ein Vorreiter unter den ersten Ländern, die aktiv an der Nutzung der Kernenergie arbeiteten, und war damit in den 1950er Jahren auch merklich erfolgreich. Heute nutzen 31 Länder der Welt die Energie aus 192 Kernkraftwerken. Insgesamt sind 438 Reaktorblöcke in Betrieb. Die Vereinigten Staaten stehen an erster Stelle, was die Anzahl der Anlagen angeht. Frankreich liegt an zweiter Stelle. (Gemessen am Gesamtanteil der Kernenergie am landesweiten Energiehaushalt steht Frankreich sogar an erster Stelle.) Russland liegt an vierter Stelle, gleich nach Japan.

Unmittelbar nach der Tragödie von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 jedoch entwickelte sich eine weltweite Bewegung gegen den Einsatz jeglicher Atomtechnologie mit starkem Zulauf. Große internationale Organisationen wurden ins Leben gerufen – wie etwa die Kampagne für nukleare Abrüstung (CND), Greenpeace, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Friends of the Earth (FoEI), Peace Action und Nuclear Information and Resource Service (NIRS). Und obwohl ihr ursprüngliches Ziel die nukleare Abrüstung war, stand schon ab Ende der 1960er Jahre auch der Ausstieg aus der Kernenergie – aus dem "friedlichen Atom" – auf ihrer Tagesordnung. Das Ergebnis dieser Politik war das allgegenwärtige Aufkommen und Erstarken grüner Parteien, die heute in vielen Ländern zu einer ernstzunehmenden politischen Macht geworden sind und erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen von Regierungen und Staats- und Regierungschefs üben.

Heute haben Länder wie Österreich, Belgien, Deutschland, Spanien und Italien der Kernenergie vollständig abgeschworen. Viele weitere Staaten in allen Teilen der Welt bewegen sich ebenfalls in diese Richtung.

"Die ganze Erde? Nein!.."

Einige jedoch leisten diesem Prozess vehement Widerstand. Es ist unschwer zu erraten, dass unter den europäischen Ländern, die die Europäische Kommission baten, die Kernenergie wiederzubeleben und sie mit grüner Energie, also vor allem mit Solar- und Windenergie, gleichzusetzen, gerade diejenigen zu finden sind, die irgendwie von lebensspendenden Gazprom-Leitungen umgangen werden oder aber ihr Erdgas zu einem Preis beziehen, mit dem sie keineswegs zufrieden sind.

Zehn EU-Länder fordern die Aufnahme der Kernenergie in die von der Europäischen Kommission erstellte Liste jener Industriezweige, die zur Verringerung von Umweltschäden beitragen. Nach Ansicht der Premierminister sowie der Energie- und Wirtschaftsminister Frankreichs, Rumäniens, der Tschechischen Republik, Finnlands, der Slowakei, Kroatiens, Sloweniens, Bulgariens, Polens und Ungarns ist die Kernenergie sicher und wird Europa im Gegensatz zu Erdgas vor sprunghaften Preisschwankungen schützen.

Emmanuel Macron war der erste, dem der Geduldsfaden riss. Ohne die Entscheidung der Europäischen Kommission abzuwarten, verkündete er öffentlich, dass Frankreich mit dem Bau neuer Kernreaktoren beginnen werde. Seine Vorgänger hatten sich zehn lange Jahre in Zurückhaltung geübt, ohne irgendwelche Schritte in Richtung der Weiterentwicklung von Kernenergie zu unternehmen. Doch nun ist der Damm gebrochen. Eine solche Eile ist verständlich: Die Kernenergie erzeugt etwa 75 Prozent des französischen Stroms. Obwohl Macron zu Beginn seiner Präsidentschaft versprochen hatte, diesen Anteil bis zum Jahr 2035 "im Namen der Umwelt" auf 50 Prozent zu senken, scheint er angesichts steigender Erdöl- und Erdgaspreise sowie der Unzuverlässigkeit der sogenannten erneuerbaren Energiequellen (allen voran Wind und Sonne) seine Meinung geändert zu haben.

Unmittelbar nach dem UN-Klimagipfel in Glasgow, auf dem radikale Veränderungen in der Energieerzeugung gefordert wurden, erklärte er in einer Ansprache an die Nation:

"Um die Energie[import]-Unabhängigkeit Frankreichs zu gewährleisten, die Stromversorgung unseres Landes sicherzustellen und unsere Ziele, insbesondere das der Kohlenstoffneutralität im Jahr 2050, zu erreichen, werden wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten den Bau von Kernreaktoren in unserem Land wiederaufnehmen – und weiterhin erneuerbare Energiequellen entwickeln."

Und das, obwohl etwa Deutschland zugleich inzwischen plant, bis dahin auf sauberen und sicheren Wasserstoff umzusteigen – der aber aus Erdgas gewonnen werden soll. Logischerweise aus russischem Erdgas, das vergleichsweise preiswert und zugänglich ist und aus dem ja gerade Gazprom und Rosatom Wasserstoff produzieren wollen. Da ist es höchste Zeit, sich dem Wasserstoff und seiner Quelle im kompromisslosen Kampf anzuschließen! Wie soll man da nicht an Cervantes und seinen Don Quixote denken?

"Jetzt leitet das Glück unsere Angelegenheiten besser, als wir es nur immer zu wünschen vermöchten; denn dort siehst du, Freund [Sancho] Panza, wie dreißig Riesen oder noch etliche mehr zum Vorschein kommen; mit denen gedenke ich einen Kampf zu fechten und ihnen allen das Leben zu nehmen. Mit ihrer Beute machen wir den Anfang, uns zu bereichern; denn das ist ein redlicher Krieg, und es geschieht Gott ein großer Dienst damit, so böses Gezücht vom Angesicht der Erde wegzufegen.

Und dies sagend, gab er seinem Gaul Rosinante die Sporen […] aber als er ihr einen Lanzenstoß auf den Flügel gab, drehte der Wind diesen mit solcher Gewalt herum, dass er den Speer in Stücke brach und Ross und Reiter mit sich fortriss, so dass sie gar übel zugerichtet übers Feld hinkugelten."

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Übersetzt aus dem Russischen.

Iwan Kononow ist ein russischer Journalist und Publizist.

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