Meinung

Sergei Karaganow: Weshalb Russland Europa endgültig aufgeben und sich gänzlich Asien zuwenden muss

Europa ist am Ende, und Russlands geografische und kulturelle Vorteile bedeuten, dass es nicht mit dem sinkenden Schiff untergehen muss. Mit der Schaffung einer Strategie der Hinwendung nach Osten würde Russland zur Quelle seiner Macht und Größe zurückkehren.
Sergei Karaganow: Weshalb Russland Europa endgültig aufgeben und sich gänzlich Asien zuwenden mussQuelle: Gettyimages.ru

Von Sergei Karaganow

Ende der 2000er Jahre diskutierten wir im Kreise von Kollegen über die Vorzüge und Notwendigkeit für Russland, sich dem Osten zuzuwenden. Etwa zur selben Zeit arbeiteten der damalige russische Minister für Katastrophenschutz Sergej Schoigu und seine Kollegen in dieselbe Richtung. Die Konzepte und Schwerpunkte dieser Herausforderung umfassten ganz Sibirien und den Ural. Es kam jedoch anders: Der Dreh- und Angelpunkt nach Asien und seinen Märkten verlief administrativ hauptsächlich über den pazifischen Fernen Osten Russlands.

Die Wende, die in den 2010er Jahren begann, war zwar erfolgreich, allerdings nur teilweise. Vor allem, weil der russische Ferne Osten künstlich vom viel bevölkerungs- und ressourcenreicheren sowie weiter industrialisierten Ost- und Westsibirien abgekoppelt wurde. Außerdem litt der Ferne Osten Russlands weiterhin unter dem "Fluch" der Abgeschiedenheit von den wesentlichen globalen Märkten. Nun erfordert die neue geostrategische Lage dringend eine Rückkehr zur ursprünglichen Idee. Zur Idee, sich dem Osten zuzuwenden, durch die primäre Erschließung ganz Sibiriens, inklusive des Urals. Mit anderen Worten, wir sprechen von der "Sibirisierung" der gesamten Russischen Föderation. Westeuropa bleibt für Russland für viele Jahre verschlossen und sollte auch nie wieder ein bevorzugter Partner werden, während Asien sich rasant weiterentwickelt.

Die großartige Literatur Russlands ist auch ein Produkt des Westens

Der vom Westen provozierte und entfesselte Krieg in der Ukraine sollte uns nicht von der Orientierung nach Süden und Osten ablenken, dort, wohin sich der Schwerpunkt der globalen Entwicklung verschiebt. Diese neue, aber schon lange vorhersehbare Entwicklung ruft uns dazu auf, in unsere "Heimat" zurückzukehren. Die "europäische Reise", die mehr als 300 Jahre andauerte, hat Russland zwar viel gebracht, ist aber schon vor langer Zeit –in Wirklichkeit vor einem Jahrhundert – beendet worden und hat ihren Nutzen erschöpft.

Ohne diese von Peter dem Großen initiierte Reise hätte Russland nicht viele Erfolge erzielen können. An erster Stelle steht die wohl bedeutendste Literatur der Welt, als Ergebnis der Verschmelzung russischer Kultur, Religion und Moral mit der westeuropäischen Kultur. Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, Gogol, Blok, Pasternak, Solschenizyn und andere Giganten der Literatur, die Russlands moderne Identität geprägt haben, hätte es ohne die "europäische Impfung" wohl kaum gegeben.

In diesen drei Jahrhunderten hat Russland seine östlichen Wurzeln des Staates und des Volkes teilweise vergessen. Die Mongolen plünderten zwar, förderten aber auch eine gewisse Entwicklung. Schließlich hat Russland in der Kooperation mit ihnen von vielen Elementen ihrer Staatlichkeit gelernt, wodurch ermöglicht wurde, einen mächtigen Zentralstaat und ein kontinentales Denken zu etablieren. Vom Reich des Dschingis Khan scheint Russland auch seine kulturelle, nationale und religiöse Offenheit geerbt zu haben, wobei die Mongolen den Russen ihre Kultur oder ihren Glauben nicht aufgezwungen haben. Tatsächlich waren die Mongolen in religiösen Belangen sehr offen.

Aus diesem Grund schloss Fürst Alexander Newski ein Bündnis mit den Mongolen, um so Russland zu bewahren. Großrussland wäre ansonsten nicht entstanden. Wahrscheinlich hätte es auch nicht in den von Feinden aus dem Westen und Süden belagerten russischen Ebenen überlebt, wäre das russische Volk nicht ab dem 16. Jahrhundert massenhaft "hinter den Stein" – den Ural – gezogen, um "der Sonne zu begegnen". Abgesehen von einem Eingreifen Gottes ist die Geschwindigkeit dieses Impulses unerklärlich. Die Kosaken erreichten die Küste des Pazifischen Ozeans innerhalb von sechs Jahrzehnten.

Die Erschließung Sibiriens machte aus der alten Rus, dem russischen Königreich, Großrussland. Schon bevor Sibirien zum Teil des Imperiums erklärt wurde, ermöglichten es die dortigen Ressourcen – zunächst Pelze, dann Silber, Gold und andere Bodenschätze –, eine mächtige Armee und eine schlagkräftige Marine aufzustellen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Karawanen der nördlichen Seidenstraße, die chinesische Waren im Tausch gegen Pelze nach Russland und darüber hinaus transportierten. In Sibirien begannen die Russen im Handel eng mit den Zentralasiaten zusammenzuarbeiten.

Sibirien hat das Beste des russischen Charakters entscheidend gestärkt: kulturelle Offenheit, dazu Willenskraft und immensen Mut. Sibirien wurde von Menschen Dutzender Nationalitäten besiedelt, die sich in die indigene Bevölkerung integrierten. Und natürlich war da auch der Kollektivismus. Ohne gegenseitige Hilfe wäre es unmöglich gewesen, zu überleben und den gigantischen Raum zu beherrschen und den Elementen zu trotzen. So entstand der sibirische Mensch – eine Konzentration der besten Eigenschaften des russischen Menschen. Russen, Tataren, Burjaten, Jakuten, Tschetschenen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Der prominente Journalist und Schriftsteller Omeltschuk aus Tjumen nannte Sibirien "das Gebräu des russischen Charakters".

Die Leistung der Besten der Elite, wie Witte, Stolypin und ihre Mitstreiter, und jener Menschen, die in kürzester Zeit die Transsibirische Eisenbahn gebaut haben, ist beispiellos. Sie handelten sowohl unter dem ursprünglichen Motto "Der Sonne entgegen" als auch unter einem Motto, das ein konkretes und majestätisches Ziel reflektierte: "Auf zum Pazifischen Ozean!" Heute sollte es ein neues Motto geben: "Auf nach Groß-Eurasien!" Wir sollten für die Arbeit und Opferbereitschaft dieser Menschen dankbar sein, aber auch für die Arbeit jener, die nicht freiwillig nach Sibirien gegangen sind. Sowohl Sträflinge als auch Gefangene des Gulags leisteten einen großen, nie völlig gewürdigten Beitrag zur Entwicklung des Landes.

Es gab das Projekt der sowjetischen Erforschung der Arktis, große Komsomol-Baustellen in Sibirien, wo Vertreter aller Völker der Sowjetunion Hand in Hand arbeiteten, Freunde fanden und Familien gründeten. Sibirisches Öl und Getreide, Pelzmäntel und Pferde aus der Mongolei. Burjaten und das Volk aus der Republik Tuwa – und natürlich weitere sibirische Regimenter – spielten eine entscheidende Rolle beim Sieg gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg.

Natürlich gibt es da noch das sibirische Öl und Gas. Aber der größte Beitrag Sibiriens zur gesamtrussischen Staatskasse sind natürlich die Menschen, die dort leben und arbeiten – mutig, hartnäckig und stark. Sie sind die Verkörperung des russischen Geistes. Es ist notwendig, nicht nur die Umsiedlung von Russen aus dem westlichen Teil – auch aus den wiedervereinigten Gebieten im Donbass – nach Sibirien zu fördern. Es ist auch notwendig, die Sibirer, mit ihrer Erfahrung und ihrem Charakter, mit ihrem Gefühl für die Nähe zu Asien, dazu aufzurufen, die Hinwendung nach Osten anzuführen. Generationen unserer Mitbürger, die Sibirien entwickelten, ermöglichten die Märkte der Zukunft in Asien und verwandelten Russland in eine große eurasische Macht. Obwohl sie es damals noch nicht wussten.

Der hoffentlich letzte Angriff des untergehenden Westens

Die vom Westen entfesselte Konfrontation, die dort stattfindenden gesellschaftlichen Prozesse der Desintegration, die von den Eliten angefacht und gefördert werden, sowie die langfristige Verlangsamung der Entwicklung Westeuropas zeigen deutlich, dass die Zukunft Russlands im Osten und im Süden liegt. Und Russland mit seiner einzigartigen Kultur und Offenheit ist aufgerufen, ein wichtiger Teil und eine führende Nation dieses Wandels zu werden, um schließlich zu dem zu werden, was das Schicksal, Gott und die Taten von Generationen seiner Vorfahren vorherbestimmt haben: Nord-Eurasien. Wir erleben die Geburt einer neuen Welt, und in vielerlei Hinsicht ist Russland zu ihrem Geburtshelfer geworden, nachdem Russland das Fundament von 500 Jahren europäisch-westlicher Hegemonie – seine militärische Überlegenheit – erschüttert hat.

Jetzt wehren wir den hoffentlich letzten Angriff des untergehenden Westens ab, der nach einer strategischen Niederlage in der Ukraine versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Diesen Kampf müssen wir gewinnen – auch mit Drohungen und notfalls mit brutalsten Mitteln. Dies ist nicht nur für das Überleben Russlands notwendig, sondern auch, um zu verhindern, dass die Welt in einen Dritten Weltkrieg abrutscht.

Aber ich wiederhole: Der Kampf mit dem Westen sollte Russland nicht von den wichtigsten kreativen Aufgaben ablenken. Und dazu gehört die Neuentwicklung des gesamten Ostens des Landes. Nicht nur die Entwicklung der Geoökonomie und Geopolitik, sondern auch der unvermeidliche Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten wird einerseits die Notwendigkeit diktieren und andererseits die Möglichkeit eröffnen, eine neue sibirische Wende für ganz Russland energisch umzusetzen, bei der das Zentrum seiner geistigen, menschlichen und wirtschaftlichen Entwicklung nach Osten verlagert wird.

Die Bodenschätze Sibiriens, seine weitläufigen Ebenen und Wälder und der Überfluss an sauberem Süßwasser sollen unter Einsatz moderner Technologien – und vor allem unter Teilnahme der sibirischen Bevölkerung – zu einer der wichtigsten Grundlagen der eurasischen Entwicklung werden. Die Aufgabe liegt darin, Sibirien in russischer Hand zu behalten und es zum Wohle aller russischen Bürger, des Staates und der gesamten Menschheit zu entwickeln. Bisher liefert Sibirien überwiegend Rohstoffe mit geringem Verarbeitungsgrad. Die Herausforderung besteht darin, gesamtrussische Produktionszyklen unter der Regulierungsfunktion des Staates zu schaffen. Es ist notwendig, die sibirische Maschinenbauindustrie auf moderne Weise wiederaufzubauen und dabei den Auftragsfluss von Verteidigungsunternehmen zu nutzen.

Alle russischen Verwaltungszentren – Ministerien, Gesetzgebungsorgane, Hauptsitze großer Konzerne – sollten in dieselbe östliche Richtung gehen, gefolgt von patriotischen und im besten Sinne des Wortes ehrgeizigen jungen Menschen. Wenn Peter der Große heute noch am Leben wäre, hätte er sicherlich eine neue Hauptstadt in Sibirien gegründet und damit das Fenster nach Asien erheblich erweitert. Neben Moskau und St. Petersburg braucht Russland dringend eine dritte, sibirische Hauptstadt. Die militärisch-strategische Lage, die sich in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird, erfordert dies.

Ich weiß, dass die Bewohner im Ural, von denen viele den feurigen Geist ihrer Vorfahren in sich tragen, sich Russlands Wiederbelebung und Wohlstand wünschen, auch durch die Entwicklung Sibiriens. Leider sehen viele von ihnen keine Perspektive, keine Möglichkeit, ihre Fähigkeiten gemäß ihren Ambitionen anzuwenden. Also ziehen sie in die gut entwickelten Regionen im westlichen Teil Russlands oder brennen stillschweigend in kleinen Städtchen und Dörfern im Osten des Landes aus.

Sibirien-Strategie für ganz Russland

Es liegt in Russlands Macht und Interesse, dieses kolossale Humankapital zu aktivieren, um die Brücken zwischen dem sibirischen Hinterland, den großen Verwaltungszentren und dem Rest Russlands aufrechtzuerhalten und die große geografische und zivilisatorische Achse der Geschichte wiederherzustellen. Die Neuorientierung des Selbstbewusstseins und Denkens der Russen, die Einheit mit der glorreichen Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft Sibiriens im Interesse des ganzen Landes, wird sicherlich einen Widerhall in den Herzen der Sibirer selbst finden.

Ich wiederhole: Wir brauchen eine Sibirien-Strategie für ganz Russland, nicht nur für den Ural, Sibirien und den Fernen Osten. Die Strategie sollte nicht zu sehr von trockenen wirtschaftlichen Berechnungen geleitet werden, sondern mit der spirituellen und kulturellen Rückkehr der großartigen, atemberaubenden Geschichte der Erforschung des asiatischen Russlands. Es sollten neue Handelsrouten entwickelt werden, die Südsibirien mit der Nordseeroute verbinden und nach China und darüber nach Südostasien führen. Der Ural und die westlichen Regionen Sibiriens sollten einen effektiven Zugang zu Indien, zu den Ländern Südasiens und dem Nahen Osten erhalten. Erfreulicherweise haben endlich, wenn auch verspätet, die Arbeiten an jener Eisenbahnstrecke begonnen, die Russland, einschließlich der sibirischen Regionen, über den Iran mit dem Indischen Ozean verbinden wird.

Es ist auch notwendig, das wasserreiche Sibirien unter Einbeziehung der wasserarmen zentralasiatischen Länder zu entwickeln, die reich an Arbeitskräften sind. Der größere Mangel an Arbeitskräften sollte teilweise durch die Rekrutierung hart arbeitender und disziplinierter Nordkoreaner ausgeglichen werden. Russland kommt endlich davon ab, der westlichen Haltung gegenüber Nordkorea zu folgen, und hat damit begonnen, wieder freundschaftliche Beziehungen zu Pjöngjang aufzunehmen. Auch ist bekannt, dass Indien und Pakistan daran interessiert wären, zumindest saisonale Arbeitskräfte bereitzustellen.

Darüber hinaus wird Sibirien mit dem unvermeidlichen Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten den Bereich komfortabler Lebensräume erweitern. Die Natur selbst lädt uns zu einer neuen Hinwendung nach Sibirien ein. Ich wiederhole es noch einmal: Durch die Schaffung und Umsetzung einer Strategie der Hinwendung nach Osten kehrt Russland nicht nur zur Quelle seiner Macht und Größe zurück, sondern öffnet auch neue Horizonte für künftige Generationen. Damit kann der wiedergeborene russische Traum verwirklicht werden: das Streben nach Größe und Wohlstand sowie der Wille, das Beste in uns zu verkörpern – den russischen Geist.

Übersetzt aus dem Englischen.

Professor Sergej Karaganow ist Ehrenvorsitzender des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und akademischer Leiter der Schule für Internationale Wirtschaft und Außenpolitik der Hochschule für Wirtschaft (HSE) in Moskau.

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